Deutschlandreise 2008
Kennen sie den „Zauberberg“ von Thomas Mann? Etwa so ist das mit der Zeit hier. Nix geht. Alles ruhig. Die arbeitende Bevölkerung arbeitet.
Wir (meine Frau und ich) versuchen, Kunstkontakte zwischen Armenien und Deutschland herzustellen. Nicht einfach. Eine unüberschaubare Flut von Ausstellungen und Veranstaltungen, Adressen von Galerien und Kunstvereinen. Berge von Einladungen und Angeboten, nur, wie kommt man in Kontakt mit Verantwortlichen, Veranstaltern? Haufenweise Promotion für die Bevölkerung, aber WO BITTE ist der „Lieferanteneingang“? Kein Büro für Kontakte. Ausstellungen werden von langer Hand organisiert und aus bestehenden Kunstsammlungen ausgewählt. Wenn man da gerade mal anklopft und sagt „Hallo, ich bin der oder die“, da gibt es schon ratlose, lange Gesichter. Keine Möglichkeit zum Bekanntmachen, zum Gespräch, zum Austausch, auch nicht der Wille dazu. Man kommt sich vor wie ein Bettler der um Almosen bettelt, es ist einfach überhaupt nicht vorgesehen, daß ein wichtiger internationaler Künstler für sich oder in Vertretung für eine ganze Künstlergruppe eines fremden Landes mit wichtigen Personen aus Deutschland sprechen kann, ZUMINDEST sich vorstellen und vielleicht um eine freundlich-diplomatische Absage zu bekommen, wir wären glücklich gewesen! Nichts! Nicht mal ein kurzes Gespräch mit maßgeblichen Leuten ist möglich. Außerhalb der internationalen Geheimbünde und der kommerziellen Kunstszene gibt es noch nicht einmal die Möglichkeit, auch nur wenige Worte zu wechseln. Nicht für die Dokumenta in Kassel und auch nicht für das regionale ZKM in Karlsruhe. Die Herrschaften sind sich zu gut dafür, so gut, daß es noch nicht einmal eine Ansprechstelle oder ein Kontaktbüro gibt.
Bevor wir nun erfahren, wie es weitergeht, ein paar grundlegende Eindrücke von Deutschland :
- Kein Autogehupe
- Man stolpert nicht beim Gegen
- In großen Supermärkten kann man Fleisch- und Milchprodukte billiger kaufen als in Armenien.
- In denselben Märkten kann man CD- oder DVD Rohlinge stapelweise spottbillig im 50er Pack kaufen. Das Kopieren einer vorhandenen DVD in einem Fotoshop kostet jedoch Unsummen.
- Im Zentrum einer Stadt bekommt man nichts zu trinken. Wenn man nicht verdursten will, muß man in einem Restaurant oder einer Bar oder einem Imbiss ein kleines 0,33 Liter Mineralwasser kaufen, für den Preis den man in einem Supermarkt an der Peripherie für einen ganzen Kasten mit etwa 10 Litern Mineralwasser bezahlen würde.
- Bahn und Tramway sind teuer; Tarife und Zonen undurchschaubar.
- Taxifahren kostet die gesamte Altersrente.
- Fast alles ist modern und erträglich sauber
- Überall Fahrradfahrer
- Trotz anfänglicher Angst meiner armenischen Frau:
Man kann am Zebrastreifen oder an einer grünen Ampel TATSÄCHLICH die Straße überqueren! - Man soll am Sonntag keine Wäsche waschen (oder andere Arbeiten verrichten). Das kommt von den Christen (oder auch nur von den christlichen Politikern), die bis zur heutigen Zeitepoche noch nicht gemerkt haben, daß Jesus ein Revolutionär gewesen ist und diese alte Einteilung vor 2000 Jahren schon aufgebrochen hat.
- Manche der sowieso schon supersauberen deutschen Autos dürfen nicht in das Stadtzentrum fahren, weil sie nicht auch noch zusätzlich so einen kleinen Feinstaubfilter im Auspuff haben, weil sonst die Menschen in der Innenstadt alle sterben müssen, und das, wo der größere Teil der Innenstadt sowieso Fußgängerzone ist und alle Durchgangslinien darum herum führen.
- In vielen Fenstern oder Gärten sieht man liebevoll plazierte Figürchen, kleine Kunstwerke, etc.; Häuserfassaden und Dächer sind zum Teil sehr schön bemalt und hergerichtet, nur selten kitschig, meistens erfreulich schön (ganz im Gegensatz zum „armenischen Style“).
- Die Menschen scheinen in einem glücklichen Zustande ruhiger paradiesischer Degeneration zu sein (wenigstens äußerlich).
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Gestern kam mein Bruder und seine Frau zu Besuch. Wir hatten uns schon einige Jahre nicht gesehen. Wie immer kam es dann auch wieder zu diversen Diskussionen über das Leben, die Staaten, das Sozialsystem etc.
Ich, wie immer, subjektiv und emotional. Er, wie immer, höherer Standpunkt, pragmatische Argumente. Ich für mehr Freiheit, so daß kleine, arme Leute die Möglichkeit haben sollten, auch irgendeine Arbeit zu tun, die nicht ins hochproduktive Deutschland paßt, z.B. im Hinterhof Fahrradschläuche reparieren oder Fahrradventile verkaufen, oder wenn sie doch wollten, wie in Armenien z.B. mitten in der Nacht auf der Straße Gemüse, Zigaretten, Bier und Käse verkaufen.(In Deutschland ist das alles zehntausendmillionenfach verboten). Seine Argumentation war, daß bei allem guten Willen dieses das soziale System unterwandern würde, da diese armen Leute ja kaum etwas in die Sozialkasse zahlen, jedoch speziell in höherem Alter die Kasse erheblich belasten würden, also unabsichtlich Sozialschmarotzer sein würden. Nun denn, ich sehe die Logik ein, aber dafür haben wir in den letzten 50 Jahren viel Kultur eingebüßt, weil alles, das nicht viel Gewinn abwirft gibt es in diesem Land einfach nicht mehr. Bäcker, Metzger, kleine Handwerker, Milchgeschäft, Uhrmacher, Schuhmacher, Autoschrauber, nur ganz professionelle überleben.
Nun denn, und was das gesetzesmäßige Entwerten von Autos und anderen Dingen betrifft, Dinge, die im Ausland noch Jahrzehnte nutzbar sind, dies fördere die Wirtschaft, so sagte mein Bruder, ohne das würden unzählige Arbeitsplätze verlorengehen und das System zusammenbrechen. Mein Gedanke war eher, daß es ungut sei, die eigene Bevölkerung mit strengsten Regelungen zu quälen, als ob es von Vorteil sei, innerhalb einer Familie sich gegenseitig das Geld wegzunehmen. Diese Regeln treffen sowieso immer die armen Leute, die Wohlhabenden kaufen von sich aus meistens neue Waren-Technik-Autos-Werkstattmaschinen-etc. Da geht doch die Welt nicht unter. Nun ja, so Leute wie ich, die fallen halt ihr Leben lang durch, passen nicht ins System, und deshalb bin ich ärgerlich. Sauärgerlich. Ich hätte eben frühzeitig ein Versicherungsbüro eröffnen müssen und ein Filialsystem aufbauen und den Leuten Bausparverträge andrehen sollen.
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An einem anderen Tag gehen wir zum alten Garten meiner Eltern. Es ist wie das Eintauchen in eine andere Welt, ein anderes Universum, eine andere Dimension.
Es ist ein kleines Grundstück zwischen vielen ähnlichen Grundstücken an einem Berghang mit Aussicht auf die kleine Stadt, die große Stadt, die große Ebene, auf die umliegenden kleinen Berge, das hier in die Ebene einmündende Tal, weit entfernt als Linie am Horizont auf der anderen Seite der Ebene eine andere Bergkette im nächsten angrenzenden Land. Weil das Grundstück sehr steil ist, wurde es unzählige Generationen früher mit Natursandsteinmäuerchen terassiert. Dehr schmale von Gräsern und Moosen bewachsene rohe Steintreppen verbinden die wenige Meter breiten Terassen mit der nächsten. Knorrige, alte Obstbäume stehen überall, strotzend voll von kleinen Äpfeln. Uralte Rebstöcke gedeihen zwischen Kräutern, Gräsern und Bäumen. Eine alte, schiefe Gartenlaube mit Vordach bietet Schutz und Ruhe. Von Ferne hört man je nach Windrichtung Stimmen von Kindern, die im entfernten Freibad der kleinen Stadt am Fuße des Berges im Schwimmbecken plantschen.
Endlich mal keine allzugroße menschliche Ordnung. Pflanzenwuchs, Sonne, Wolken. Die Früchte wachsen für die Tiere, solange niemand erntet, und natürlicherweise bilden sie endlich den wertvollen Humus des Bodens. Den Holztisch, den ich vor 25 Jahren für meine Eltern gebaut hatte, verschiebe ich nicht, weil eine Spinne ihr Netz an einer Seite daran befestigt hat. Sie war schließlich vor mir da. Das ist auch eine Tatsache: Deutschland ist ein Land für Feld- Wald- und Wiesenromantiker. DER deutsche Wald. Die Heide. Die Seen. Die Mittelgebirge mit feuchten Nebelschwaden über den Wäldern. Frau Holle. Faust. Kirchtürme bohren Löcher in den Himmel. Kirchenglockengetöse anstatt Armbanduhren. Kirchen mit Dorf darumherum bilden Bannkreise gegen die bösen Naturgeister. Der paradiesische Fluß beendet, die Zeit lautstark im 15 Minuten-Takt eingeteilt. Christliche Kreuze überall dort, wo keine Kirche stehen kann, auf jedem Berg, an jeder Weggabelung, als Zeichen der Herrschaft, die Geister der Berge, der Wege und der Wasserquellen davonjagend.
Die modernen Menschen heutiger Zeit sind normalerweise nicht mehr religionsfixiert, keine Angst, alles ganz normal. Aber die deutsche Kultur ist von jahrtausende alter Religion geprägt. Die Deutschen empfinden sich selbst als sehr frei und empfinden das nicht selbst so. Treffen sie jedoch auf eine fremde Religion, wohl idiotisch wie alle Religionen, so werden sie intolerant und verstehen die Idiotie anderer Kulturen nicht. Dabei sind die Deutschen zwar etwas eingebildet, aber immer noch mehr Weltbürger als die meisten anderen noch mehr religionsfixierten Menschen auf dem Globus. Wie sagte der Holländer Herrmamm van Veen : “ Wir sind ja soooo tolerant ! “ Und ich sage: Am aller- tolerantesten sind die durch Inzucht reingebliebenen katholischen Bewohner so mancher kleiner deutschen Dorfgemeinschaft, dort wo Martin Luther noch nicht vorgedrungen ist. Dort leben die wahren Terroristen. Nicht im Irak.
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Die Sonne geht jetzt unter. Ich sitze in der Gartenhütte am Fuße des Schwarzwaldes bei Karlsruhe und schaue schräg über die Rheinebene nach Südwesten zu den französischen Vogesen. Dort irgendwo ist Straßbourg mit seinem Münster, seinen Kanälen und internationalem Flair. Fragt man als Deutscher in Straßbourg nach dem Weg, so sollte man französisch reden, nicht deutsch. Kann man kein französisch, sollte man lieber nicht fragen. Ich übertreibe. Entschuldigung. Die Bedienung im Straßencafé sprach schließlich gut deutsch und war sehr freundlich. Tourismus und Moderne als Überwindung der alten Völkerfeindschaft. Was die Kriege der letzten Jahrhunderte angerichtet hatten, läßt sich eben nicht wegwischen. Das arme Elsaß mußte vielemale die Staatszugehörigkeit wechseln. Dabei sind wir doch von Mannheim bis Zürich alle irgendwie Allemannen. Im entfernteren Ausland wird Deutschland immer so einheitlich gesehen. Der Deutsche! Was ist das? Es gibt doch gar nicht „den Deutschen“. Und was tun wir? Der Engländer, der Türke, der Amerikaner, der Russe, womit natürlich die kompletten Vereinigten Staaten, die komplette Sowietunion gemeint ist. Aber eines ist klar. Sieht man die Welt, so ist Deutschland in der Mitte, zusammen mit unseren europäischen „Freunden“. Westlich ist viel Wasser und dann weit weg die „Amis“. Im Osten irgendwo die bösen Russen. Im Südosten die Verrückten und auf der anderen Seite der Kugel irgendwo China und Japan.
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